Zurück zur Übersicht
I

Christoph Blocher

Unverhoffte Verwicklung in eine explosive Angelegenheit

Christoph Blocher

Worum geht es?

Ein Schweizer Ingenieur und seine beiden Söhne beteiligten sich an einem internationalen Schmugglerring für Bestandteile und Pläne zur Urananreicherung. Diese sollte der Weiterverbreitung von und Aufrüstung mit Atomwaffen in Pakistan, Libyen, Nordkorea und im Iran dienen. Als diese Unterlagen unverhofft in der Schweiz auftauchten, geriet der damals amtierende Bundesrat Christoph Blocher national und international unter Druck. Welche Rolle spielte der amerikanische Auslandsgeheimdienst (CIA) in dieser Angelegenheit und was geschah mit den 1,9 Tonnen an streng geheimen Dokumenten?

Quellen und Meinungen

Der internationale Aspekt der Tinner-Aktivitäten

Ab 1998 besass Pakistan Atombomben. Ihre Entwicklung verdankte das Land Abdul Qadeer Khan – in Pakistan ein Nationalheld, ausserhalb von Pakistan ein Krimineller. Ab 1972 gelang der Wissenschaftler Khan aufgrund seiner beruflichen Laufbahn in Europa an Wissen und konkrete Unterlagen, die sich auf die Konstruktion von Zentrifugen und schliesslich die Urananreicherung bezogen. Neben den Entwürfen stiess er ebenfalls auf die Lieferantenliste, auf der unter anderem sein ehemaliger Studienkollege Friedrich Tinner aus der Schweiz stand. Die Firma VAT, in der Tinner zu jener Zeit arbeitete, produzierte Vakuumgeräte, die für Khans Vorhaben eines pakistanischen Atomprogramms ebenfalls von zentraler Bedeutung waren. Tinner machte sich später selbstständig und unterstützte Khan schliesslich bei der Entwicklung der ersten Atombombe in Pakistan.

 

Als die USA nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan (1988/89) und ebenfalls aufgrund des Verdachts, dass Pakistan heimlich an der Entwicklung der Atombombe forschte, ihre Unterstützung für Pakistan in den frühen 1990er-Jahren reduzierten, bot Khan seine atomaren Technologien den Regierungen in Libyen, Nordkorea und im Iran an, um den finanziellen Einbussen entgegenzuwirken. Dazu liess er die Unterlagen scannen und digitalisieren. Allerdings wurde er zu dieser Zeit von Friedrich Tinners Sohn Urs ausspioniert. Urs Tinner, der anfänglich mit der Digitalisierung beauftragt wurde, hatte ab 1998 in Dubai und Malaysia für Khan gearbeitet. Er entwendete Kopien der geheimen Unterlagen als Beweismittel und liess sie ab 1999/2000 dem amerikanischen Auslandsgeheimdienst (CIA) zukommen. Aus seiner Spionagetätigkeit floss über seinen Bruder Marco Geld an die Familie Tinner in der Schweiz – wie hoch der Betrag war, ist unklar. Einige Quellen gehen von rund einer Million Dollar aus, andere jedoch von weitaus mehr.

 

Diese Kooperation ermöglichte 2003, dass das Containerschiff «BBC China» auf dem Mittelmeer aus dem Verkehr gezogen werden konnte. An Bord befanden sich Unmengen an geschmuggelten Gütern, die der Urananreicherung und somit der atomaren Aufrüstung des libyschen Diktators Gaddafi hätten dienen sollen. Dieser sah sich somit gezwungen, mit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) in Wien zu kooperieren und sein Vorhaben aufzugeben. Die Tinners fürchteten zu Recht, ihre Machenschaften seien nun auch aufgeflogen, und kooperierten ebenfalls. Die geheimen Unterlagen, die gegen den Atomwaffensperrvertrag verstiessen, blieben jedoch in der Schweiz - und so wurde Bundesrat Christoph Blocher unverhofft in diese explosive Angelegenheit verwickelt.

Die Rekrutierung von Urs Tinner durch die CIA

David Albright, früherer Inspektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA), und Paul Brannan, ebenfalls am unabhängigen Institute for Science and International Security (ISIS) tätig, rekonstruierten in einem Bericht, wie Urs Tinner von der CIA für die Spionagetätigkeit rekrutiert wurde:

Urs had moved to Dubai in 1998 where he contributed to his family’s business with Khan and to fulfilling Libya’s secret order for a turn-key gas centrifuge plant. He also worked there with B.S.A. Tahir, Khan’s chief aide.

Urs was lonely and often frequented the same bars. He had left Switzerland depressed over his recent divorce, including what he called ‹drama› over his children and visitation rights. He also had disagreements with local Swiss tax authorities over money they claimed he owed.

In the version where Urs was recruited by the CIA in 2000, a CIA agent reportedly approached him in Dubai. This agent, the story goes, relied on a simple, well-tested method. Based on the statements of ‹Mad Dog›, a former CIA employee involved in the case, the CIA agent reportedly threatened Urs with possible legal trouble in France for a crime he had allegedly committed earlier. This threat was evidently enough to convince Urs to become at least a reluctant, perhaps uncooperative, source. Urs likely believed that the CIA agent could turn incriminating evidence over to authorities, compounding his troubles. Urs’ exact status with the CIA in this version is difficult to determine, although no reports claim it was fulsome.

Swiss investigators did not find any confirmatory evidence about the earlier approach to Urs in documentation assembled as part of their effort to determine whether to charge the Tinners with violating Swiss anti-proliferation laws. This information included encrypted electronic communications between the Tinners and the CIA found by Swiss investigators in the large electronic collection that investigators seized from the Tinners. After much effort, Swiss authorities managed to decrypt these e-mail communications between the CIA and the Tinners, but none of the emails showed an earlier recruitment.

That a CIA agent could approach Urs and obtain information from him is supported by more recent revelations. Based on Urs’ interactions with the media and Swiss investigators, a picture has emerged of someone who is willing and eager to talk about himself and his activities. One knowledgeable source with experience interviewing Urs said that Tinner could easily be tricked and might reveal information without meaning to do so. While questioning both Urs and Marco, a witness to these conversations reported that Urs talked over and down to his quieter brother Marco. Thus, there is little doubt that the CIA could have used Urs as an unwitting source.

If Urs did start working with CIA in 2000, he is unlikely to have told his family about it. The Tinner businesses involved Urs’ mother, father, brother, sister, and brother-in-law. The businesses were deeply involved in supplying Pakistan’s and Libya’s nuclear weapons programs. Urs would have likely feared his powerful father, who had a long, productive relationship with Khan. If he helped the CIA too much, he risked hurting his own family. The cooperation could result in prosecutions or retribution by Khan or the Libyan ruler Muammar Qadaffi against himself or his family.

Q
Quelle

Der Druck der USA auf die Schweizer Regierung und Justiz

In einem weiteren Bericht stellten Albright und Brannan dar, wie die USA die Schweizer Ermittlungen gegen die Tinners behinderten, weil sie die CIA-Aktivitäten nicht vor einem Schweizer Gericht verhandelt sehen wollten. Folgender Text wurde aufgrund vieler englischer Fachbegriffe übersetzt:

Die CIA, die von der Bush-Regierung unterstützt wurde, wollte nicht, dass die Schweizer Staatsanwälte Erfolg haben. Insbesondere wollte die CIA einen Prozess vermeiden, bei dem die Anwälte der Tinners ihre Mandanten verteidigen würden, indem sie Einzelheiten über die Beteiligung der CIA an illegalen Aktivitäten auf Schweizer Boden enthüllten. Für die CIA leisteten die Tinners einen wertvollen Dienst und verdienten eine besondere Berücksichtigung bei einer Strafverfolgung. Die CIA wollte auch Enthüllungen verhindern, die vergangene und möglicherweise laufende Aktivitäten aufdeckten, um ein weiteres ‹Stimmen des Horns› zu verhindern; so ein hoher CIA-Beamter. Enthüllungen könnten Fragen über ihre Geschäfte mit Atomschmugglern aufwerfen und sich negativ auf die Rekrutierung künftiger Agenten auswirken.

Die Schweizer Bundesanwaltschaft, die Beweise sammelte und die Familie Tinner befragte, kam zu dem Schluss, dass die Tinners durch ihre Tätigkeit für die CIA nicht über den Schweizer Gesetzen – insbesondere den Gesetzen zur Bekämpfung der Proliferation und der Geldwäscherei – stehen […].

Seit der Verhaftung der Tinners vor über fünf Jahren haben die Vereinigten Staaten Rechtshilfeersuchen der Schweiz abgelehnt. Es geht um die Beschaffung von Beweisen, die für die Ermittlungen zu den mutmasslichen Verstössen der Tinners gegen die Schweizer Nonproliferationsgesetze [Gesetze zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen] wichtig sind. Die Weigerung der Vereinigten Staaten, den Schweizer Staatsanwälten bei der Untersuchung von Verstössen gegen die Nonproliferationsgesetze zu helfen, brachte sie in die unangenehme Lage, Staatsgeheimnisse über diese Gesetze zu stellen – eine Position, die sie schon vielen anderen ausländischen Regierungen vorgeworfen haben.

Die Vereinigten Staaten kooperierten nicht nur nicht mit den [Schweizer] Staatsanwälten, sondern übten auch Druck auf die Schweizer Regierung aus und mischten sich im Grunde genommen in das Schweizer Justizsystem ein. Mit Unterstützung der USA ordnete der Bundesrat, das höchste Exekutivorgan der Schweiz, im November 2007 heimlich die Vernichtung wichtiger Beweise im ‹Fall Tinner› an, um ein Gerichtsverfahren gegen die Tinners so gut wie unmöglich zu machen. Zu diesen Beweisen gehörten Unterlagen über die Aktivitäten der Tinners im Bereich der nuklearen Proliferation, sensible Gaszentrifugen- und Atomwaffenkonzepte sowie Dokumente, die belegen, dass die Tinners für die CIA gearbeitet haben. Um die umfassende und geheime Vernichtungsanordnung zu rechtfertigen, berief sich der Bundesrat auf die Notstandsbefugnisse der Schweizer Verfassung. Damit provozierte er eine Konfrontation mit der mächtigen Aufsichtskommission für nationale Sicherheit und Nachrichtendienste des Schweizer Parlaments. Diese kam nach eingehender Prüfung zum Schluss, dass der Bundesrat seine verfassungsmässigen Kompetenzen überschritten hat und die Dokumente zumindest bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens nicht hätte vernichten dürfen.

Als zentrale Verteidigung gegen die Vorwürfe spielten die Tinners ihre Arbeit für die CIA hoch. Dabei gaben sie sensible Informationen über geheime Operationen des US-Geheimdienstes preis. Es bleibt schwierig, ihre Arbeit für die CIA zu verstehen. Eine Geschichte, die jetzt wahr zu sein scheint, ist die, dass die drei Tinners einen wichtigen Beitrag zur Zerschlagung des Khan-Netzwerks leisteten, als sie im Juni 2003 einen Vertrag mit der CIA unterzeichneten. […]

Der lange Konflikt zwischen der US-Regierung und der Schweizer Justiz führte zu weiteren Enthüllungen über die Aktivitäten der CIA, von denen mehrere in den bei den Tinners beschlagnahmten Dokumenten oder in Aussagen der Tinners gegenüber Staatsanwälten enthalten sind. Diese Enthüllungen deckten bedeutende CIA-Aktivitäten in der Schweiz und anderswo auf, einschliesslich der Enthüllung, dass bestimmte CIA-Aktivitäten in der Schweiz gegen Gesetze zur Spionagebekämpfung verstiessen. Da die Schweiz ein neutraler Staat ist, verbieten ihre Gesetze Schweizer Bürgern ausdrücklich, mit ausländischen Nachrichtendiensten zusammenzuarbeiten, und untersagen ausländischen Nachrichtendiensten, in der Schweiz gegen ein anderes Land zu arbeiten.

Q
Quelle

Links zu Internetressourcen

  • Publikationen ansehen
  • Video ansehen
  • Videoarchiv öffnen

Wie geht’s weiter?

Erstellen Sie nun aus der Kernstory in der Broschüre und aus den hier angebotenen Materialien Ihren Podcast.