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Peter Gasser

Das grosse Staunen nach 17 Jahren

Peter Gasser

Worum geht es?

Das Leben eines etablierten Zürcher Bezirksanwalts änderte sich schlagartig, als er unerwartet nicht mehr zur Wiederwahl vorgeschlagen wurde. Plötzlich war er auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen. Was Peter Gasser nicht wusste: Er war einer Verwechslung zum Opfer gefallen, die dazu führte, dass er als vermeintlicher Extremist von der Bundespolizei überwacht wurde. Erst nach 17 Jahren klärte sich der Irrtum auf. Wer war von der sogenannten «Fichenaffäre» betroffen und inwiefern wirkt sie sich bis heute auf die Weiterentwicklung des Staatsschutzes aus?

Quellen und Meinungen

Aus dem ersten Polizeibericht

Im ersten Polizeibericht über Gassers vermeintliche Teilnahme an den Demonstrationen ist zu lesen:

Ein Bezirksanwalt, der nun teilnimmt an derartigen Demonstrationen […], bekundet schlicht und einfach eine Einstellung, die ihn für das Amt eines Bezirksanwaltes untauglich macht.

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Aus dem zweiten Polizeibericht

Zwar wird Gasser das Recht auf Demonstrationsteilnahme zugestanden, stattdessen aber Abstreiten vorgeworfen:

Ich komme zum Schluss, dass Bezirksanwalt Gasser zu Unrecht die Angaben der vier Polizeifunktionäre als unrichtig bezeichnet. Dieses Abstreiten, nicht die Belastung durch die vorgenannten Polizeifunktionäre, ist nun meines Erachtens aber geeignet, die Zutrauenswürdigkeit von Bezirksanwalt Gasser in Zweifel zu ziehen.

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Aus einem Interview mit Peter Gasser

Sie hatten Glück, dass Sie wussten, wie man sich wehren kann, wenn man in eine solche Maschinerie gerät. Was geschieht mit einem Durchschnittsbürger, der diese Mittel nicht zur Verfügung hat oder sich nicht auskennt?

Peter Gasser: Ich hatte eine gewisse Glaubwürdigkeit, weil ich schon 15 Jahre beim Staat bin, hier Kollegen aus allen Parteien habe, die eine Abklärung für notwendig hielten und weil ich beurteilen kann, wie Beweise zu würdigen sind. Ich glaube, ein Lehrling, eine Krankenschwester oder ein Hilfsschullehrer, der in eine solche Situation gerät, hat hier Pech.

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Bei ihrer ersten Begegnung 1998 liessen sich Peter Gasser (rechts) und Daniel de Roulet (links) fotografieren. Im Hintergrund ein von der Polizei aufgenommenes Bild von Daniel de Roulet anlässlich der Zürcher Demonstration (1980).

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Die «Fichenaffäre»

1989 kam durch eine Parlamentarische Untersuchungskommission zum Vorschein, dass die dem Justiz- und Polizeidepartement unterstehende Bundespolizei und ihre Vorgängerorganisationen seit 1900 Karteikarten («Fichen») über mehr als 900’000 Personen und Organisationen angelegt hatten. Ursprünglich handelte es sich vor allem um verdächtige Immigrant:innen, aber während des Kalten Kriegs wurden in einer separaten «Extremistenkartei» ca. 8000 Personen speziell registriert.

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Während der Hochphase des Kalten Kriegs und der Protestbewegung der Kriegsgegner:innen (68er-Bewegung) wurde die Extremistenkartei am intensivsten ausgebaut. Wer ein:e «Extremist:in» sei, bestimmte die mit der Führung der Kartei beauftragte Behörde weitestgehend selbst oder auf Antrag von Meldungen aus den Kantonen. Dienstverweigerer wurden teilweise fichiert, teilweise nicht. 80 Prozent der «Extremist:innen» waren – wie vermeintlich Gasser – Kommunist:innen oder politisch sonst linksstehende Menschen. Oft handelte es sich um Schüler:innen, Auszubildende, Studierende und Arbeiter:innen. 63 Prozent waren jünger als 26 Jahre und der Frauenanteil belief sich auf 30 Prozent.

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Würdigung der Arbeit der Bundespolizei

Als Folge des «Fichenskandals» von 1989 prüfte eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) die Datensammlung. Sie kam bezüglich der Aktivitäten der Bundespolizei zu folgenden Schlüssen:

[…] Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung wurden zwar [in die Untersuchung] miteinbezogen, nicht aber einer systematischen Überprüfung unterzogen. Die PUK hat dabei festgestellt, dass die Bundespolizei in diesen beiden Bereichen des klassischen Staatsschutzes gute Arbeit geleistet hat. Teilweise in enger Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten hat sie hier ihre Aktivitäten laufend den veränderten Situationen und Bedürfnissen angepasst. […] Der Staat ist zu seinem Schutz auf eine präventive polizeiliche Tätigkeit angewiesen. Vorkehrungen, die auf eine widerrechtliche Änderung der staatlichen Ordnung mit Gewalt und ohne Einhaltung der demokratischen Mittel zielen, sind frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu bekämpfen. Dafür ist eine präventive Erfassung von Vorgängen im Vorfeld strafbarer Handlungen erforderlich, die allenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt – in Kombination mit weiteren Erkenntnissen – relevant werden. Dies führt notwendigerweise dazu, dass der Kreis der beobachteten Personen und Organisationen weiter gezogen werden muss, als es von der aktuellen Bedrohungslage her erforderlich wäre. Ebenso ist es unvermeidlich, dass auch Dritte erfasst werden, die völlig unbeteiligt sind und es auch bleiben. Diese grundsätzlich positive Bewertung des Staatsschutzes schliesst jedoch nicht aus, dass festgestellte Mängel gerügt, auf berechtigte Interessen Betroffener hingewiesen und Verbesserungsvorschläge erarbeitet werden […]:

Konkretisierung des allgemeinen Polizeiauftrags: Der allgemeine Polizeiauftrag mag in seiner abstrakten und sehr weitgefassten Form als theoretische Richtlinie für den Staatsschutz genügen. Für die praktische Anwendung ist aber eine Konkretisierung unerlässlich. Die Frage: ‹Wer bedroht diesen Staat mittelbar und unmittelbar mit hinreichender Wahrscheinlichkeit?› muss ständig neu gestellt und auch beantwortet werden.

Verantwortung für inhaltliche Kriterien: Es ist Aufgabe der politisch verantwortlichen Behörden, den allgemeinen Polizeiauftrag zu konkretisieren. Die Interpretation des Auftrages ist jedoch weitgehend unkontrolliert den Nachrichtenbeschaffern an der Front überlassen worden. Dies hat dazu geführt, dass die einzelnen Kantone teilweise völlig verschiedene Kriterien anwenden […]. Das Sammeln und Auswerten unnützer und unter dem Gesichtspunkt des Staatsschutzes belangloser Informationen […] ist konsequent zu unterbinden […].

Vermeidung des Sammelns unrichtiger und unnötiger Informationen: Der Wahrheitsgehalt zahlreicher festgehaltener Informationen ist nicht überprüft und kann – wie dies der Chef der Bundespolizei zu Recht sagt – auch kaum überprüft werden. […] Die PUK hat in konkreten Fällen festgestellt, dass nicht selten aus unsicheren Quellen stammende Informationen zu einem späteren Zeitpunkt als Tatsachen dargestellt und nachrichtendienstlich verwendet wurden. Solches muss mit aller Schärfe verurteilt werden […].

Wahrung der Grundrechte und der Persönlichkeitsrechte: Mit dem Sammeln und Auswerten personenbezogener Daten werden zum Teil die Persönlichkeitsrechte der Erfassten berührt. Deren Rechte müssen datenschutzrechtlich definiert und geregelt werden. Soweit nicht zwingende Gründe des Staatsschutzes dagegen sprechen, ist ihnen ein Einsichts- und Berichtigungsrecht einzuräumen […].

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Zwei Beurteilungen zum Staatsschutz

Der Dienst der Staatsschutzpolizei in Bund und Kantonen bildet einen wichtigen Teil der Gesamtverteidigung. In der Vergangenheit war die Zusammenarbeit zwischen der Bundespolizei und den Organen der kantonalen Staatsschutzpolizei trotz einer wenig profilierten Rechtslage befriedigend und dank des Einsatzes der Polizeiorgane konnten zahlreiche strafbare Handlungen im Bereiche des Staatsschutzes aufgedeckt und Gefährdungen der inneren und äusseren Sicherheit abgewehrt werden.

[In der Epoche des Kalten Kriegs sei der Kreis der verdächtigten Personen allerdings ausgeweitet worden, weil die Verdachtskriterien nicht mehr definiert wurden.]

Aus diesen und weiteren Gründen gingen die Beobachtungen und Erhebungen der Staatsschutzpolizei in Bund und Kantonen verschiedentlich über den strafrechtlich und verwaltungsrechtlich umschriebenen Auftrag des Bundesgesetzgebers hinaus, und es wurde nicht rechtzeitig die Notwendigkeit erkannt, durch gesetzlich abgestützte, der wechselnden Bedrohungslage angepasste Beobachtungsaufträge, Zielrichtungen und Grenzen der Beobachtungen der Staatsschutzpolizei näher zu konkretisieren.

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Der Wunsch, mit polizeilicher Wehr lasse sich ein Leben ohne Gefahr einrichten, mit der hektischen Aufrüstung der Truppen an der inneren Front sei Sicherheit zu gewinnen, mündete letztlich nur in den Widerspruch, der beharrlich verdrängt wurde: Führt die Unterdrückung von Gegnern der demokratischen Gesellschaft zum Ziel, so ist sie in der Regel unnötig (die Partei der Arbeit wäre auch ohne staatliche Repression nie über ihre Randexistenz hinausgewachsen); ist die Bekämpfung bei einer ernsthaften Bedrohung der liberalen Einrichtungen hingegen angezeigt, so hilft sie, wie ausländische Beispiele beweisen, kaum – und birgt in sich die Keime neuer, womöglich grösserer Gefahren für die Demokratie. Prävention gegen solche Attacken kann nur der möglichst offene demokratische Prozess sein, der dem Bürger alle möglichen Artikulationsformen gewährt, um die gesellschaftlichen Probleme zu benennen.

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